Otmar Engel, BR Fernsehen, Redaktion Lesezeichen, Januar 2003

Hätte mich jemand gefragt, ob ich Franz von Lenbach für einen modernen Künstler halte, ich würde ohne zu zögern mit „nein“ geantwortet haben. Bei Georg Baselitz hätte ich die selbe Frage auch mit „nein“ beantwortet. Wolfgang Rupperts Buch hat mich eines anderen belehrt. Ich komme darauf zurück.

Vielleicht ist Rupperts Annahme (Einleitung, Seite 11) zu forciert, dass „wir mit Selbstverständlichkeit von den ‘Künstlern’ (sprechen), im Sinne einer fest umgrenzten sozialen Gruppe mit kulturellen Eigenschaften, die von den Prägungen der Zeit unabhängig zu sein scheinen“. Überblickt man mit Ruppert den Forschungsstand (S. 11-25), dann wird, so darf man im Gegenteil vermuten, selbst der „letzte Laie“, der weder die genannten Arbeiten noch ihre Autoren im einzelnen kennt, zumindest ein Gefühl für die historische Prägung von Begriffen und Kategorien entwickelt haben. Elemente des Fachwissens sickern relativ schnell in die „Allgemeinbildung“ ein. Dennoch werden in jeder Allgemeinbildung eine Reihe von Mythen mitgeschleppt – im Fall meines eigenen Urteils über Lenbach beispielweise in Form einer unzulässigen Focussierung des Blicks allein auf die ästhetischen Mittel des Malers (die sich, wie auch Ruppert schreibt, retrospektiv am Historismus orientieren und insofern in der Tat vormodern sind). Rupperts Buch öffnet den Blick des Lesers für eine wesentlich komplexere Sicht auf die „kreative Individualität“ in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Um die langfristige Gültigkeit von überindividuellen Mustern und Zuschreibungen an die Figur des modernen Künstlers erfassen zu können (S.27), führt Ruppert den Begriff des „Künstlerhabitus“ ein und definiert Habitus mit Bourdieu als ein „System der organischen und mentalen Dispositionen und der unbewußten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata.“. Es geht ihm darum, Klarheit über die sozial- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen zu schaffen, wie das Bürgertum – und die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft – prägenden Einfluß auf die Entwicklung des Künstlers und der Kunst genommen haben (S.25).

Ruppert entwickelt seine Fragestellung mit einer staunenswerten Umsicht, - auf einem Terrain, das vielfach geschichtet ist und sich vom Selbstbild der einzelnen Künstler bis hin zu den Ausbildungssituationen, von der sozialen Herkunft bis hin zu den Käuferwünschen, von der künstlerischen „Lebensform“ bis zur Kunstkritik erstreckt. Durch die Präzision seiner Arbeit gelingt ihm ein nicht nur differenziertes, sondern auch ausgesprochen lebendiges Bild der Entwicklung: bis hinein in die „Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Konzepte des Künstlers“ (S.80).

Vielleicht macht es gerade der Reichtum an Material in Rupperts Buch, dass man sich –auch- immer wieder dazu verlockt sieht, Teile davon aus der wissenschaftlichen Argumentation herauszulösen und „für sich“ zu betrachten und zu bedenken: dann können sich spannungsvolle, überraschende Korrespondenzen ergeben, beispielsweise zwischen Ernst Cassirer und Richard Riemerschmid. Cassirer 1923: „Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient.“ (S.37)

Riemerschmid 1917: „Von Anfang an muss nicht nur gelehrt, sondern auch gezeigt werden. Dass nicht Zeichnen können. Malen, Modellieren können Kunst bedeutet, sondern das überall, wo Formen entstehen, ob nun Mauern aufgeführt werden oder Eisenhämmer niederdröhnen oder geschickte Finger die Nadel führen oder der Meißel den Stein behaut oder der Pinsel Farben aufträgt, dass da überall auch Kunst sein kann, wenn eben die Sehnsucht und die Kraft mit dabei tätig ist, die Formen leben und reden zu lassen.“ (S.64)

Wolfgang Ruppert grenzt den Schwerpunkt seiner Arbeit zwischen 1850 und 1930 ein. In einem sehr knapp gehaltenen Ausblick endet er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei der Kunstform der „Perfomance": „Die Geste der Entgrenzung, die Erfindung des noch Unbekannten entsprach dem Originalitätsangebot des Künsterhabitus. Dies ist als eine Steigerung der elitären Heroik des Künstlers zu interpretieren, wie sie in der „modernen Bewegung“ bereits vor 1900 zu beobachten war.“ (S.591)

Man würde sich von Ruppert ein nachfolgendes Buch wünschen, in dem er untersucht, in welchen historischen Situationen die „langfristige Gültigkeit von überindividuellen Mustern“ auch wieder bröckeln kann, und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die „Zuschreibungen an die Figur des modernen Künstlers“ sich signifikant verschieben. Und Baselitz? Bei Baselitz zeigt Ruppert, dass auch dieser in seiner „Rede über Deutschland“ (1992) konventionelle Muster aus der Grammatik des Künstlerhabitus referierte.

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